Michael Becker
oder die Schönheit der Geometrie
Goldplatten, Titanscheiben, Dolomitsteine, strenge, asketische Formen, klare Linien: selten kann ein erster Blick so trügerisch sein wie der, den man als Außenstehender auf ein Schmuckstück von Michael Becker wirft. Denn hinter der geometrischen Strenge, der ästhetischen Perfektion verbergen sich: Poesie und Leidenschaft, ja eine an Obsession grenzende Lust an der Schönheit.
Man könnte auch so sagen: die sichtbare Strenge ist die Konsequenz eines passionierten Drangs, eine kosmische Unordnung zu erfassen und das Chaos gleichzeitig zu bändigen; jede Bewegung anzuhalten und zugleich alles mögliche in Bewegung zu setzen. Statik und Dynamik sind bei Michael Becker ebenso wenig Gegensätze wie Künstlichkeit und Natur.
Er ist ein Meister der Übergänge, der Metamorphosen und Verwandlungen – und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sich fast seine ganze Arbeit an der Schnittstelle, auf dem schmalen Grat zwischen der Organisation und der Freisetzung von Energien konzentriert.
Von oben herab und hautnah
Einer im Anflug. Wie aus 10 000 Metern Höhe geraten schrundige Bergrücken, mäandernde Flussdeltas oder Siedlungsstrukturen in den Blick. 3 D-Modelle der Erde oder Spuren von Kometenbewegungen, Metamorphosen von Weltraumbildern und Miniaturen aus dem All – alles Topographien und durchaus nicht nur Phantasien.
Seit seinen Anfängen, seit den Broschen mit ihren von Goldblech umrahmten Räumen, die er auf der Grundlage von Palladio-Grundrissen entwickelte, hat sich Michael Becker dem Blick von oben verschrieben: von ganz oben herab, aus großer Distanz anzuschweben und riesige Landmassen in Miniaturrahmen zu fassen. Freilich so gekonnt, dass keiner auf die Idee eines kruden Verismus käme. Hier wird nicht kitschig nachgemacht, Natur verkleinert, gar verniedlicht. Im Gegenteil, die Reliefs und Faltungen, Gipfel und Täler entstehen erst wieder im Kopf des Betrachters. Das Schmuckstück, die blauen oder grauen oder grünen Steine, Lapislazuli, grauer Dolomit oder grüner Granat, sind allenfalls Katalysatoren, die Bilder in unseren Köpfen zum Leben erwecken und ihnen ein Geheimnis entlocken, das dem normalen Blick verwehrt ist.
Was für die Steine und Landschaften gilt, hat gleichermaßen Bedeutung für die Schwelle zwischen Stillstand und Bewegung.
Versteinerte Landschaften und bewegte Bilder
Flüssiger Dolomit, steinharte Ströme – wenn man mit glühender Lava arbeiten könnte, Michael Becker würde vermutlich nicht zögern, auch damit zu experimentieren, so sehr ist es ihm ein Bedürfnis, alle geometrische Statik wieder in Bewegung zu versetzen. Ihm selbst schwebt immer das Bild eines ins Trudeln geratenen Würfels vor, dessen unendlicher Kipp-, Fall- und Rollbewegung er am Modell aus Papier minutiös und in Zeitlupe folgt, wann immer er die Glieder seiner Ketten in kalkulierten Rhythmen oder asymmetrischen Aufhängungen aneinanderfügt.
In Zeitlupe verfolgt: denn viele seiner quadratischen oder rechteckigen, sanft gebogenen oder ganz leicht verdrehten Kettenglieder geraten – nicht erst am Arm, am Hals ihrer Trägerin – in Bewegung. Sie sind es bereits durch kleine, minutiös kalkulierte, rhythmisierte Verschiebungen in der Anordnung, so als ob da etwas in Bewegung gerät, niemals ins Stocken kommt, sondern fließt. Statischer, repräsentativer Schmuck, Geschmücktsein ist das Letzte, was Becker möchte. Freilich auch nichts Wildes, kein ungezähmt überschäumendes Driften: Alle Bewegungen sind gefasst, bleiben im Rahmen der Gesetze von Gravitation und Geometrie. Becker und der Liebe zur Schönheit der Geometrie muss ein kleines Kapitel dieser Mini-Ästhetik gewidmet sein. Man sieht ihn förmlich als einen Alchimisten der angewandten Kunst, über seine Zeichnungen und Papiermodelle gebeugt, minutiös, nicht kleinlich, das ist etwas ganz anderes, messend, vermessend. Aber immer auf der Suche nach einem Idealzustand, einem Moment, von dem er – vielleicht – ja doch wünschen würde, er bliebe stehen.
Die Vermessung der Schönheit
Die Vermessung der Schönheit geschieht bei Michael Becker auf dem Hintergrund einer klassischen Schulung: Vitruv, Leonardo, L.B. Alberti – immer wieder sind es die großen, klassischen Ästhetiker der Renaissance, die er als Quellen angibt. Alles andere als sklavisch, eher selbstbewusst geht er so mit ihnen um, dass das Mysterium des doppelten Quadrats (um nur eines der vielen Ordnungs- und Proportionierungssysteme zu nennen, mit denen er sich beschäftigt) und seiner mit dem Zirkel erfassten Ableitungen und ihrer geordneten Proportionsverschiebungen wie seine artistische Weltformel erscheint. Die Quadratur der Schmuckkreation hat bei ihm etwas perfektionistisch Analytisches, was die Annäherung betrifft, und etwas spielerisch Leichtes, was die Resultate angeht. Im Laboratorium dieses ästhetischen Tüftlers geht es um Miniaturen, als ob es um die Welt ginge. Vielleicht geht es ja auch tatsächlich um das Schicksal der Welt, einer Welt, in der die Proportionen harmonisch aufeinander abgestimmt sind, wenn in der Münchner Artilleriestraße die Lage und der Neigungswinkel eines gebogenen Titanplättchens festgelegt werden. Die Geometrie der Schönheit kennt keine Kompromisse, nur Gesetzmäßigkeiten. Mit ihren Windungen und Wendungen gleichen manche seiner Schmuckstücke, sobald sie getragen werden, chromatischen Tonleitern, die Klänge wieder und wieder umspielen und modellieren – wer hätte gedacht, dass Ketten nicht nur bei jeder Bewegung im Licht funkeln, sondern klingen können? Sphärenklänge – na, gottlob ist alles doch nur ernstes, sehr ernstes Spiel. Dafür bürgt das Genre der angewandten Kunst, die ja immer zu den Menschen hin will. Ketten, Armbänder, Ringe jenseits der Menschen, der Trägerinnen, Besitzer und Benutzer gibt es eigentlich gar nicht. Und so ist es die Doppelbewegung, die Bewegung der Bewegung, die auch Beckers Artefakte erst zum Leben, zum wirklichen Leben bringt.
Lichtspiele und Farbwelten
Denn das eigentliche Medium der Verlebendigung der Preziosen und Artefakte ist das Licht: Reflexe, Schattierungen, Schatten, Bewegungen sind Elemente, die sogar die härtesten Materialien beleben können. Auch Beckers Farben, Lapislazuli aus Afghanistan, grauer Dolomit aus China, grüner Granat aus Sibirien und leuchtendes Rot, das nur als Pigment zu haben ist, nicht zu vergessen das Gold, dessen immer matt gefeilte Oberflächenstruktur er in allen Hell-Dunkel-Varianten v.a. als Farbe einsetzt, – bei der Wahl der Farben erlegt er sich strikte Beschränkung auf. Denn es ist ihm wichtig, dass auch die Farben materiell beständig sind; nicht etwa nur aufgemalt sind und ausbleichen können. Doch das einfallende Licht, die raffiniert konstruierten Überblendungen doppelter Ebenen lassen ebenso wie die exakt strukturierten Rahmungen der Räume und Farbsteine Lichtbahnen über die Steinlandschaften fallen, so, dass sie sich ständig verwandeln, bald hell aufscheinen, bald geheimnisvoll schimmern, zuweilen düster verglühen.
Im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Begriff des Gesamtkunstwerks nahezu automatisch mit der Vorstellung von Größe, ja Gigantomanie verbunden. Man könnte ihm hier abschließend eine andere Wendung geben und, auch wenn es etwas paradox klingen sollte, mit Blick auf Beckers Werke von Gesamtkunstwerken en miniature zu sprechen. Kleine Gesamtkunstwerke, die mit hochartifiziellen Mitteln mitten ins Leben zielen und sich selbst Botschaft genug sind. Keine Metaphern, keine Symbole, schon gar keine Mythen. Das Ding an sich, seine Idee, sein Sich-Materialisieren, sein Aufleben am Körper einer Trägerin sind Mysterium genug.
Nicht zuletzt sind Beckers Schmuckstücke, gerade weil sie mit jeder Bewegung, jedem Lichtwechsel ihrerseits Lichtsignale senden, auch so etwas wie Medien visueller und taktiler Kommunikation. In einer Welt inflationärer virtueller Bildüberflutungen ist solch eine phantasievolle Neuordnung der konkreten sinnlichen Erfahrbarkeit fast ein Politikum. Es geht um nichts Geringeres als um die Wiedereroberung der eigenen Wahrnehmung, der Materialität, der Dinglichkeit. Und so sind Michael Beckers Schmuckobjekte auch Instrumente im Kampf um Eigensinnlichkeit und eine hautnah erfahrbare Mystik der „Oberflächlichkeit“.
Jürgen Wertheimer und Cornelie Ueding
Michael Becker
Biografie
1958 Geboren in Paderborn
1975-1982 Ausbildung und Tätigkeit als Gold- und Silberschmied
1982-1987 Studium an der Fachhochschule Köln, Bildhauerei/ Edelmetallgestaltung Prof. Skubic
Seit 1988 Eigenes Atelier in München
Seit 1987 Einzel- und Gruppenausstellungen in Europa
und USA
Auszeichnungen
1987 Förderpreis, Schmuck 87, München
1988 Herbert-Hoffmann-Preis, München
1994 Herbert-Hoffmann-Preis, München
1995 Danner-Ehrenpreis, München
1997 „In neuer Reihung“ Friedrich Wilhelm Müller-Wettbewerb, Schwäbisch Gmünd
2002 Bayerischer Staatspreis IHM, München
2017 Friedrich-Becker-Preis, Düsseldorf
2017 Danner-Ehrenpreis, München
Arbeiten in Museen und öffentlichen Sammlungen
Deutschland
Bröhan Design Foundation, Berlin
Kunstgewerbemuseum, Berlin
Zeitgenössische Danner-Schmucksammlung,
Dauerleihgabe an Die Neue Sammlung, The Design Museum, München
Deutsches Klingenmuseum, Solingen
Deutsches Goldschmiedehaus, Hanau
Schmuckmuseum, Pforzheim
Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg
England
Victoria and Albert Museum, Kensington, West London
Frankreich
Musée des Art décoratifs, Paris
Kanada
Musée des beaux-arts de Montréal
USA
Cooper Hewitt, Smithsonian Design Museum, New York, NY
Mint Museum of Art, Charlotte, NC
The Helen Williams Drutt Collection at the Museum of Fine Arts, Houston, TX
Los Angeles County Museum of Art, Los Angeles, CA